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This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — sourcemeta

Author:Peter Hepworth
Published:1994-01-01
Archived:2008-05-08

17. Ruf der Sirenen

Im Chaos, das auf das Verschwinden von Charley folgte, achtete niemand auf das Boot, welches von seiner Anlegestelle in einem nahe gelegenen Meeresarm wegfuhr und mit seiner vollständigen und wohlbehalten Besatzung an Bord zur Rückkehr aufbrach.

Auf dem Weg zurück nach ORCA, war das Boot Schauplatz einer lautstarken und triumphierenden Siegesfeier. Nicht zu überhörende Jubelschreie spalteten die Luft, Handflächen klatschten ab unter gegenseitiger Anerkennung des Sieges und Heldenmärchen wurden mit jeder Erzählung übertriebener.

Einen Moment lang kam der Ernst in ihre Gesichter zurück als Vanessa das Wort ergriff.

„Versuch, sie aufzuhalten“, murmelte Brett aus einem Mundwinkel.

Da die Wahrheit über Neri nun ihr Geheimnis war, fand sie, sollten alle und jeder einen Schwur ablegen, niemals jemandem ein Wort darüber zu verraten, der nicht bereits davon wusste. Dem wurde pflichtgemäß zugestimmt und die Party ging weiter wie zuvor.

Doch ihre Stimmung änderte sich schlagartig, als sie zu Hause ankamen.

die Türen des Hauptausfzugs öffneten sich und enthüllten Lucas, der mit einem versteierten Gesicht auf sie wartete. Er krümmte seinen Zeigefinger, befahl ihnen, ihm zu folgen und führte sie in einen leeren Versammlungsraum in den Offiziersquartieren. Dort verlangte er zu erfahren, wo sie gewesen seien. Er hätte vom Festland eine Nachricht erhalten sagte er. Etwas über Vandalismus bei einem wissenschaftlichen Institut und Gerüchte darüber, dass Kinder von der ORCA-Station darin verwickelt wären. Er wollte die Wahrheit.

Jason begann, Lucas die Geschichte zu erzählen. Als er Neris Name erwähnte, erschraken mehrere der anderen und versuchten ihn zum Aufhören zu bewegen, doch er schob sie beiseite.

„Da ist nichts dabei“, sagte er. „Mom hat mir gesagt, dass er bereits alles über sie weiß.“ Er stellte grob die Ereignisse des Tages dar. „UBRI wird keine große Aufregung darum machen“, schloss er ab. „Wenn sie es tun würden, könnte jemand Fragen darüber stellen, warum sie eine unter Naturschutz stehende Spezies in der Bucht eingesperrt hätten.“

Lucas ließ die übrigen gehen damit sie den Zorn ihrer eigenen Eltern zu spüren bekamen bevor er sich mit Lee auseinadersetzte.

„Das ist eine Sache, die ich von einigen dieser anderen Kindern erwartet hätte, aber von dir! Ich dachte, ich hätte eine Tochter mit einem guten Pflichtbewusstsein aufgezogen. Ist dir klar, was für eine Gefahr du da auf dich genommen hast?“

Lee schaute ihrem Vater direkt in die Augen. „Ja, Dad. Und ich würde sie wieder auf mich nehmen, wenn es nötig wäre.“

Lucas war sprachlos. Lee hatte noch nie zuvor auf diese Weise mit ihm gesprochen.

„Tut mir leid“, fuhr sie fort. „Ich weiß, Pflicht für dich bedeutet, doch manchmal gibt es wichtigere Dinge. Und eines davon ist Neri. Das hier ist ihr Territorium. Sie gehört hier her genauso wie der Wal. Niemand hat das Recht, einen von ihnen hier wegzunehmen und sie in einen Käfig zu stecken.

Und ist es nicht an erster Stelle die Aufgabe von ORCA, den Ozean zu schützen?“

Lucas gab keine Antwort. Er saß einfach da, schaute seine Tochter an, tief in Gedanken versunken.


„Ich kann einfach nicht glauben, dass ihr Jungs weggegangen seid ohne mir etwas zu sagen!“ sagte Dianne. Während sie mit der Predigt fortfuhr, ging Winston zum Faxgerät, das gerade eine Nachricht ausdruckte. Er riss sie ab, schaute darauf und überlegte einen Moment lang. Dann faltete er sie vorsichtig zusammen und schob sie in seine Tasche.

Dianne begann sich langsam zu beruhigen. „Was ihr getan habt war dumm und gefährlich. Ihr dürft so etwas nie wieder tun.“ Es gab eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu. „Und hoffentlich müsst ihr es auch nie wieder.“

Und sie erzählte ihnen, dass sie jegliche Spur von Neri aus ihren Dateien gelöscht hatte.

Als sie fertig war, kam Jason zu ihr rüber, von Brett gefolgt. „Wir wissen, was es dir bedeutet hat, Mom“, sagte Jason leise und umarmte sie etwas unbeholfen. Sie legte einen Arm auf die Schulter von beiden. „Nicht so viel wie ihr beide“, antwortete sie, „oder sie, wenn man das so sagen kann.“

Dann gab sie beiden einen Klaps auf den Hinterkopf. „Nur für den Fall, dass ihr denkt, ich sei zahm geworden“, erklärte sie.

„Dr. Bates.“ Sie schauten hinüber und sahen, dass Lucas in der Türe stand. „Ich dachte ich sollte ihnen mitteilen, dass ich mich entschieden habe, den Bericht nicht abzugeben. In Wirklichkeit habe ich, wenn jemand fragt, nie irgendetwas von ihrer Forschung gesehen. Haben sie verstanden?“

„Absolut, Commander“, lächelte sie. Er drehte sich um und wollte gehen.

„Und Jack… “ Er zuckte etwas zusammen bei dem unvertrauten Gebrauch seines Namens. „… Danke.“ Er nickte und ging hinaus.

„Aber Mom, das bedeutet, dass du die Dateien umsonst gelöscht hast“, deutete Jason an.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte es sowieso getan. Neri wäre nie in Sicherheit gewesen solange sie exisieren. Zumindest kann sie in dieser Beziehung frei ihre eigene Wahl treffen. Wisst ihr, wo sie ist?“

„Sie wird wohl auf der Insel sein.“

„Bringt mich hin. Ich denke, ihr könnt mir jetzt vertrauen, oder? Mal sehen, ob sie nach Hause kommen will.“

Als sie losgingen schloss sich Winston hinter ihnen an.


Neri stand am ihnen Strand gegenüber, ein leichter Sommerwind spielte mit ihrem Haar.

„Verstehtst du nicht, Neri?“ sagte Dianne. „Du kannst bei uns leben, als Teil der Familie.“

Brett grinste. „Hey, wir sind vielleicht etwas verrückt, aber ich glaube, wir kommen miteinander klar.“

Neris Augen füllten sich mit Traurigkeit. „Es gibt viele gute Dinge in eurer Welt. Und ich mag meine Familie. Aber ich muss gehen.“

„Gehen? Wohin?“ fragte Jason.

Neri blickte zur Bucht. Dort sah man, wie erst einen großen Wasserschwall und dann Charley die Oberfläche durchbrach. „Auf eine lange Reise mit ihm.“

Dianne verstand es zuerst. „Die Zugwanderung? Neri, das kannst du nicht tun.“

„Ich muss. Das ist meine Welt.“

Sie ging zu Winston rüber und umarmte ihn schwermütig. „Guter Freund.

Halte Ausschau nach mir im Meer.“

„Eigentlich sollte es ein weises altes Sprichwort geben, um die Situation abzurunden“, merkte er an, „aber irgendwie fällt mir gerade keins ein.“

Dann wandte sie sich zu Dianne. „Leb wohl, Mutter.“

Dianne umklammerte sie und hielt sie fest an sich. „Du kannst nicht weggehen, Neri.“

Winston’s Stimme war leise aber merkwürdig entschlossen. „Dianne, lassen sie sie gehen.“

Dianne löste ihren Griff langsam und Neri ging zu Brett. „Merk’ dir, nicht Giftbeeren essen“, flüsterte sie in sein Ohr.

Schließlich stand sie vor Jason. Während sie sich umarmten berührten sich ihre Lippen einen Augenblick lang flüchtig. Als sie wegging, hielt Neri kurz inne. Sie griff mit der Hand und fühlte etwas auf ihrer Wange, dann schaute sie verwirrt auf ihre Hand.

„Hey, Neri“, sagte Brett, „das ist das erste Mal, dass ich dich je weinen sehe.“

Charley kam in der Bucht wieder an die Oberfläche. Neri hörte sein Lied.

„Er sagt mir, dass ich jetzt kommen soll.“

Sie schritt zurück, warf einen letzten Blick auf alle, dann rannte sie den Strand hinunter und verschwand im Meer.

Diannes Stimme brach die Stille. „Wissen wir, ob sie je zurückkommt?“

„Ich habe meine guten Gründe zu vermuten, dass sie es wird“, sagte Winston. „Ich wollte ihnen das hier nicht zeigen bis sie bestimmte Entscheidungen getroffen hatten. Nur für den Fall, dass die wissenschaftliche Neugierde ihr Urteilsvermögen getrübt hätte.“

Er griff in seine Tasche und zog das zusammengefaltete Fax heruas. Dianne öffnete es und begann zu lesen.

„Es ist vom Pathologen auf dem Festland“, sagte Winston gleichmütig.

„Er hat Neri’s Blut überprüft. Es ist nicht menschlich. Tatsache ist, dass es DNA-Strukturen enthält, die noch nie zuvor auf diesem Planeten gesehen wurden.“

Jasons Gedanken verschwammen. Als er Neri zum ersten Mal getroffen hatte, hatte sie den Wal Jali genannt. War das die andere Sprache, an die sie sich dunkel erinnert hatte, eine, die man nirgendwo auf der Erde sprach? Er hatte den Gedanken verworfen, dass sie eine Meerjungfrau war, doch könnte sie nicht sogar etwas noch phantastischeres sein? Bis zu diesem Moment schien sich alles durch das in den Sümpfen gestrandete Schiff zu erklären.

Doch jetzt dachte er darüber nach — was, wenn es gar kein Schiff war? Was war das für ein Fortbewegungsmittel, das Neri hier her gebracht hatte?

Er hörte, wie Mom seine Gedanken genau wiedergab. „Wenn sie nicht menschlich ist, woher kommt sie dann?“

„Ich weiß es nicht“, gab Winston zu, „aber ich vermute, dass die Antwort irgendwo hier auf der Insel liegt. Und eines Tages wird sie zurückkommen müssen, um es selbst herauszufinden.“

Im Meer kam Neri neben Charley an die Oberfläche. Sie hob einen Arm als letztes Lebewohl. „Wir sehen uns!“ rief sie.

Dann kam die riesige Schwanzflosse von Charley nach oben, sie schwamm neben ihn und beide verschwanden zusammen in der Welt unter der Oberfläche des Ozeans.