← previous next →

This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — sourcemeta

Author:Peter Hepworth
Published:1994-01-01
Archived:2008-05-08

2. Die Jagd

Jason wog die Armbrust in seinem Arm, während er zweimal die Sicherheitsgurte überprüfte, die ihn davor bewahrten, vom Schiffsbug zu fallen. Er hatte Grund, vorsichtig zu sein. Obwohl das leistungsstarke Boot gerade nur mit Dauergeschwindigkeit durch das Wasser fuhr, wußte er, dass sich die Dinge ändern würden, wenn die Jagd anfing. Er könnte leicht über Bord rutschen, wenn er nicht stabil am Deck verankert war.

Er passte das Zielfernrohr des Bogens an. Obwohl er dagegen ankämpfte, war er ziemlich aufgeregt. Sie hatten fast eine Woche warten müssen, bevor der ausgewählte Wal wieder geortet worden war. Jetzt endlich konnte er all die Monate langweiligen Übens in die Tat umsetzen.

Der Commander hatte beinahe alles zunichte gemacht. Er hatte wirklich eine Nummer abgezogen, dass Jason erst vierzehn sei und der Bogen eine tödliche Waffe wäre. Mom hatte ihm die Urkunde gezeigt, die Jason als Absolventen des Sicherheitskurses für korrekte Handhabung auszeichnete.

„Sein Lehrer hat Jason als den besten jungen Scharfschützen eingestuft, den er je ausgebildet hätte“, hatte sie betont, und bot ihman, ihn gegen jeden anderen von ORCA antreten zu lassen.

Erst nach einer langen Diskussion hatte sich der Kommander endlich darauf eingelassen. Und selbst danach bestand er noch darauf, dass niemand in der Nähe von Jason sein durfte, während er den Bogen in seinen Händen hielt.

Hinten im Steuerhaus schaute Brett zu, wie Mom und Winston sich über einem Schirm vertieften.

„Das wird ihm doch nicht weh tun, oder?“ fragte er.

„Natürlich nicht, Brett“, sagte Mom, etwas verärgert. „Es ist wie ein kleiner Dartpfeil. Er wird nicht mehr spüren als einen Nadelstich, ich verspreche es.“

„Tja, wir werden eine ganze Ecke mehr als einen Nadelstich zu spüren bekommen, wenn wir hier draußen noch jemanden rammen!“ beschwerte sich der Bootsführer. Er war am nörgeln, seit sie ORCA verlassen hatten. Mom und Winston hätten so viel Ausrüstung in das Steuerhaus gepackt, beschwerte er sich, dass er fast nicht geradeaussehen könne.

Mom erinnerte ihn leise daran, dass ein Zusammenstoß mitten im Ozean nicht sehr wahrscheinlich war. Außerdem würde ihr Advanced Lanar Tracking System sofort Alarm schlagen, wenn etwas vor ihnen, über ihnen oder unter ihnen im Wasser auftachen würde. Sie wurden von Winstons Zwischenruf unterbochen.

„Ich habe ihn!“

Brett lief zu ihm. Winstons Finger zeigte auf eine unscharfe Gestalt auf dem Schirm. „Richtung Osten. Genau, wie es die Aufklärungsflieger gesagt haben.“

Mom griff nach dem Headset. „Jason?“

Ihre Stimme kreischte durch die Ohrhörer des anderen Headsets, das Jasons trug. Er rückte das Mikrophon zurecht. „Was gibts?“

„Wir sind ihm auf der Spur. Am besten lädst du.“

Jason nahm den Pfeil. Er war nicht viel größer als seine Hand, der mit einem Widerhaken versehene Kopf war dicht besetzt mit kleinen Sendern und Sensoren. Er rastete ihn an seinem Platz am Bogen ein.

Zwanzig Minuten später fanden sie den Wal, der sich an der Wasseroberfläche tummelte. Während die Motoren gedrosselt wurden, schoben sie sich langsam und beständig auf ihn zu. Jason hob den Boden leicht an. Das wird ziemlich einfach, dachte er.

Plötzlich machte der Wahl kehrt und begann sich mit drehenden Bewegungen zu entfernen, mit zunehmender Geschwindigkeit.

Mom’s Stimme prasselte durch die Ohrhörer. „Er hat uns gesehen. Er will mit uns ein Wettrennen machen. Halt’ dich fest, Jason!“

Mit einem lauten Tosen schoss das Boot vorwärts.

Jason wurde an seinem Gurt hin- und hergeschleudert, als das Boot durch das Wasser stieß und an Fahrt zunahm. Gicht spritzte über den Bug und nahm ihm die Sicht. Das Tier versuchte verzweifelt, die Richtung zu ändern, doch es hatte keine Chance gegen die tobenden Motoren und nach kurzer Zeit schon hatten sie seinen Kurs und holten auf.


Der Ruf loderte in Neri’s Kopf auf wie ein Lichtblitz. Gefahr. Es gibt Gefahr.

Einen Moment später sah sie die Vision. Der schäumende Ozean. Das Schiff, das erbarmungslos näher kam. Der Fremde an der Spitze mit der Waffe in seinen Händen Sie rannte ins Wasser und schwamm so schnell es ging der offenen See entgegen.

Ich komme mein Freund. Ich komme.


Das Boot lag jetzt nahezu bewegungslos im Wasser. Das Wal war abgetaucht, aber Jason wußte, dass sie seine Bewegungen unter Wasser hinten im Führerhaus überwachten. Jetzt spielte es nur noch eine Rolle, dass er am richtigen Ort war, wenn er auftauchte.

„Oh Mom, kann ich nicht nach vorne zuschauen gehen?“ bettelte Brett.

Sie warf einen Blick auf den Schirm, über den sie und Winston sich beugten. „Nein. Du hast gehört, was der Commander gesagt hat, Brett. Du bleibst hier.“

Brett verzog das Gesicht. Warum wollten Erwachsene Kinder immer davon abhalten, Spaß zu haben?

„Er kommt hoch!“ schrie Winston. „Fast direkt vor uns, nur etwas links.“

„Backbord“, korrigierte ihn der Seemann als er das Steuer drehte, seine Augen klebten am Schirm. Die Motoren heulten auf.

„Jetzt kommt er hoch, Jason“, sagte Mom in das Mikrophon ihres Headsets, „direkt vor dir“

„Ja, ich sehe ihn.“ Am Bug konnte Jason das riesige dunkle Etwas erkennen, das zur Oberfläche aufstieg.

Er spannte den Bogen und legte ihn an, als der Körper der Kreatur die Oberfläche durchbrach.

„Halte dich bereit zum Feuern und sag mir, wenn du bereits bist.“

„In Ordnung.“

Er legte den Bogen an seine Schulter und ging die Anweisungen ein letztes mal durch. Neben dem Athemloch. Hinter dem Teil des Kopfes, wo das Hirn lag. Als die Kreatur einen Moment lang innezuhalten schien, zielte er mit dem Fadenkreuz, zog den Sicherheitsriegel mit seinem Daumen und hielt den Atem an.

Der Wal schien sich fast nicht mehr zu bewegen. Auf diese Entfernung konnte er gar nicht danebentreffen. Sein Finger lag auf dem Abzug.

Plötzlich erschien ein Mädchen aus dem nichts, schoß aus den Tiefen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit hervor. Sie brach durch die Oberfläche direkt in seine Feuerlinie. Zwischen ihn und den Wal. Sie streckte verteidigend ihre Arme aus und schrie gegen den Motorlärm: „NEIN!“

Jason blieb mit offenem Mund wie erstarrt stehen.

„Los Jason! Feuern und Treffer bestätigen.“ Es war eine ansteigende Dringlichkeit in Mom’s Stimme in den Kopfhörern, doch Jason konnte weder sprechen noch sich bewegen. Er stand einfach da und starrte auf das Mädchen. Es war kein Land in Sichtweite. Kein anderes Boot in der Nähe.

Wie konnte sie hier her gelangen?

Das Mädchen erwiderte seinen starrenden Blick. Es war etwas Bittendes in ihren seegrünen Augen, aber auch etwas verärgertes. Die Macht dieses Blicks war so stark, dass Jason seine Augen nicht davon losreißen konnte.

Langsam bemerkte er die Wellen, die sich hinter ihr bildeten.

„Verdammt noch mal, er fängt an, sich wieder zu bewegen! Feuer, Jason, Feuer!“

Doch Jason war wie gelähmt.

Das Mädchen schien die hastigen Schritte gehört zu haben, bevor er sie bemerkte. Ihre Augen wandten sich dem Heck des Bootes zu, dann drehte sie sich schnell wie der Blitz um, tauchte weg und verschwand so schnell wie sie gekommen war.

Das nächste, was Jason bemerkte, war Mom neben ihm, die ihm die Armbrust aus der Hand riß. „Gib mir das Ding.“ Ihre Stimme kochte vor Wut.

Sie drehte sich rum, hielt sich fest, zielte und feuerte.

Der Wal war gerade dabei, wieder abzutauchen. Normalerweise traf Mom soschlecht wie ein Blinder, doch wie durch ein Wunder flog der Pfeil geradeaus und traf genau. Er blieb genau vor dem Atemloch hängen, das bereits einen Augenblick später unter Wasser war.

„Wow — ich habe ihn getroffen.“ Einen Moment lang war ihre Stimme ein leises Wispern, doch nicht lange. Sie wandte sich zu Jason, mit lodernden Augen. „OK, was ist passiert? Warum hast du nicht geschossen?“

„Da war ein Mädchen.“ Während er das sagte, bemerkte Jason, wie unglaubwürdig es klang.

„Da… war ein… was?“

„Ein Mädchen. Im Ozean. Sie… sie ist einfach aufgetaucht. Und stand mir im Weg.“

In einer gefährlichen Stille zeigte Mom auf die bis zum Horizont reichende Wasseroberfläche. „Gut, wo ist sie dann jetzt, Jason?“

Jason zuckte hilflos mit dem Achseln. „Ich weiß es nicht.“

Winston war mit Brett im Schlepptau zu ihnen nach vorne gekommen.

Jason sah sie bittend an. „Hat denn niemand von euch das Mädchen im Wasser gesehen?“

Sie starrten ihn unsicher an.

Mom ignorierte ihn. Sie wandte sich sachlich zu Winston. „Ich glaube, ich habe ihn getroffen, Winston. Aber wir müssen zurück ins Labor, um das zu überprüfen. Sagen sie ihm bitte, er soll unverzüglich nach ORCA zurückfahren.“

Winston warf Jason einen seltsamen Blick zu, bevor er sich wieder in Richtung Steuerhaus begab.

„Und was dich betrifft, junger Mann“, fügte Mom hinzu, „wir werden nachher noch ein sehr langes Gespräch führen, glaub mir.“ Sie folgte Winston.

„Aber Mom“, rief Jason ihr hinterher, „da war ein Mädchen. Sie war hier.“

Mom ging einfach weiter. Brett stand da, grinste auf seinen älteren Bruder und tippte mit einem Finger an seine Stirn. „Natürlich war sie da. Und der Osterhase und der Nikolaus auch, richtig?“

Jason schaute verwirrt auf das Meer. „Ich habe sie gesehen“, sagte er zu sich selbst.

„Jace“, kam Brett’s Stimme von hinten, „diesmal sitzt du wirklich in der Tinte.“

Die Motoren heulten auf und das Boot begann sich zu wenden, um die Heimreise anzutreten.


Neri’s Kopf kam aus dem Wasser. Das Boot hatte jetzt einige Entfernung und fuhr mit hoher Geschwindigkeit weg. Sie schaute ihm nach, beunruhigt.


Zurück im Labor schienen alle Geräte auf dem Regal zu Jasons Erleichterung perfekt zu funktionieren. Auf einem Bildschirm, registrierte ein glühender Punkt die momentane Position des Wals. Zur gleichen Zeit zeigte ein zweiter Monitor die sich wiederholenden Muster seiner Hirnströme. Winston berechnete, dass beides innerhalb einer Umgebung von zwölf Meilen empfangen werden konnte. Ständig kam der Klang von Walgesängen aus den beiden Lautsprechern. Der ganze Raum war von einem merkwürdigen Pfeifen, Stöhnen und Quietschen erfüllt, das von starken Sendern übermittelt wurde.

„Hören sie sich das an, Winston“, rief Mom jubelnd, „ich habe noch nie solch klare Signale empfangen. Schnell, wir sollten sofort mit den Aufnahmen beginnen!“

Brett stellte schnell das Aufnahmegerät ein. Nur Jason hatte die allgemeine Begeisterung nicht gepackt, denn er wusste, dass seine Mutter ihm früher oder später noch eine gehörige Portion Aufmerksamkeit widmen würde. Und er musste nicht lange darauf warten.

„Du weißt ja, dass wir das nicht dir zu verdanken haben, Jason.“ sagte sie mit scharfem Ton. „Diese Aktion von dir haette unsere Arbeit beinahe um Wochen zu rückgeworfen.“

Jason wollte ihr widersprechen, doch sie kam ihm zuvor.

„Seit ich diese Stelle angenommen habe, stellst du dich mir in den Weg.

Bisher habe ich das ja noch akzeptiert, weil du hier auf so vieles verzichten musst — unter anderem die gelegentlichen Wochenenden mit deinem Vater… “

Einen Moment lang wurde ihre Stimme leiser bei dem Gedanken an Dad.

Doch sofort wurde sie auch wieder lauter. „… doch es ist unverzeilich, dass du absichtlich versuchst, unser Projekt zu ruinieren, nur weil du nicht länger hier sein willst!“

„Ich habe nicht… “

„Denkst du etwa, ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht? Vermasseln wir mal die Markierung des Wahls, vielleicht schickt sie uns dann alle nach Hause, richtig?“

„Nein!“

„Warum hast du dann nicht gefeuert, als ich es dir gesagt habe?“

Wieder versuchte Jason ihr die Sache mit dem Mädchen klar zu machen, doch Mom hatte keine Lust zuzuhören. „Hör’ doch auf mit dem Quatsch, Jason“, schnaubte sie. „Wenn du dir schon Ausreden ausdenkst, dann achte wenigstens darauf, dass sie einigermassen glaubwürdig sind! Wir waren mittem im Ozean. Was sollte dort draußen ein Mädchen machen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte er abwehrend. „Sie war einfach da.“

Mom’s Gesicht fing an, rot zu werden. Winston ging zu Jason rüber und flüsterte ihm zu: „Jason, ein Sprichwort sagt: Wenn der Tiger brüllt, versteckt sich das kluge Kaninchen.“

Jason runzelte die Stirn. „Und was bedeutet das?“

„Es bedeutet: Raus hier, solange du noch kannst“, sagte Winston und zwinkerte ihm zu.

Jason nahm den Ratschlag an und war sofort weg.

Etwas später lag er auf seinem Bett und versuchte das Geschehene zu begreifen. Sicher, niemand sonst hatte das Mädchen gesehen, doch wenn er darüber nachdachte überraschte ihn das nicht. Sie waren alle mit ihren Geräten und dem Wal beschäftigt. Und selbst wenn sie in seine Richtung hätten, hätte er und der Bogen ihnen die Sicht versperrt. Also war er der einzige Zeuge. Und niemand glaubte ihm.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Brett’s stichelnde Stimme aus dem Bett unter ihm kam. „Das ist doch ganz einfach zu erklären, Jace. Du wirst ganz einfach verrückt.“

„Ich bin nicht verrückt, du Dummkopf“, knurrte Jason mit zusammengebissenen Zähnen.

„Das sagen diese doch Leute immer, oder?“ konterte Brett. Er grinste.

Er hatte nicht oft die Chance, so sehr Schabernack mit Jason zu treiben.

Jason schwang sich von seinem Bett herunter und schaute seinen Bruder böse an. „Hör zu, ich habe das Mädchen gesehen, Blödmann. Ich weiß nicht wie und warum — aber sie muss irgendwo dort draußen sein, und das werde ich beweisen.“

Jasons Gesicht war ohne jede Gestik. Sogar Brett fiel die merkwürdige Entschlossenheit in seiner Stimme auf. „Ich werde es euch allen noch zeigen“, sagte er leise, „und wenn ich bis zum Ende meines Lebens dafür brauche. Ich gehe hier nicht weg, bis ich sie gefunden habe.“